Nur bei Wenigem kann man dieses Jahr “alle Jahre wieder…” sagen, zu sprunghaft war es mit all den Herausforderungen, die wir oft von einen auf den anderen Tagen zu bewältigten hatten. Flexibel sein/bleiben hieß es. Aber ein liebgewordenes Ritual blieb, nämlich bei der Adventkalender Geschichte mit zu schreiben. Heute darf ich das 6. Türchen schreibend öffnen bei Hennis Blog-Adventkalender 2020 von Grünraumschreiben.
Was bisher geschah, lest Ihr in kursiv:
Sie hält das Streichholz, mit der sie die erste Kerze auf dem Adventskranz angezündet hat, noch in der Hand. Wie früher bei der Mutprobe mit ihrem älteren Bruder. Wer konnte das Streichholz länger in der Hand halten? Sie beobachteten beide die heiße Flamme, wie sie sich ihren Fingern näherte. Wurde es zu heiß, ließen sie das Streichholz fallen. Ihr Bruder konnte das Streichholz immer eine Sekunde länger halten als sie. Erst Jahre später hatte er ihr verraten, dass er seine Finger vorher mit Vaseline eingeschmiert hatte. Er hatte sie getäuscht und nicht nur dieses eine Mal.
Sie schaut aus dem Fenster. Wird er heute kommen?
Henni hatte das Streichholz wie damals auch immer nicht schnell genug fallen gelassen. Eine erbsengroße Brandblase bildete sich sofort an ihrem Daumen. „Ich hasse dich. Warum kann ich selbst heute, nach gut einem halben Jahrhundert nicht besser aufpassen?“
Die erste Kerze an ihrem Adventskranz brannte. War es und er das wert? Sie rannte in die Küche und ließ kaltes Wasser über ihre Finger laufen. Dabei überhörte sie, dass es klopfte.
Er war gekommen. Würde er jetzt aufgeben und wieder gehen?
Hennis Blick fiel auf den Kühlschrank. Mit einem Marienkäfermagneten – denn sie liebte Punkte – hatte sie dort die Postkarte mit dem Leuchtturm festgemacht. Der Leuchtturm war rot-weiß gestreift und sah aus, als habe er Ringelsocken an. Ihr Bruder hatte ihr die Leuchtturmkarte geschickt.
„Vielleicht komme ich dich an Weihnachten besuchen”, lautete der letzte Satz. Ihr Bruder lebte seit über 20 Jahren am Nordseestrand in einem Haus – mit Strohdach vielleicht. Sie wusste es nicht. Sie hatten sich so viele Jahre nicht gesehen.
„Vielleicht. ”Das Wort schmeckte wie Pampelmuse auf Hennis Zunge. „Wir müssen uns vorbereiten”, murmelte sie, “ja, das müssen wir.” So vieles geht Henni am diesem Abend beim Blick ins Kerzenlicht durch den Kopf. Der Schmerz über die Leere in der Geschwisterbeziehung wiegt schwerer, als das Schrinnen der Brandblase.
Immerhin ist Julius ihr Bruder. Der sich in der Vergangenheit aber oft so … ja beschissen! ihr gegenüber verhalten hat. Wie hat er ihr damals den besorgniserregenden Gesundheitszustand ihrer Mutter verheimlichen können? Ihr damit die Möglichkeit genommen, von der Mutter Abschied zu nehmen. Und dann die Sache mit der Erbschaft. Oh ja, der Geschmack der Pampelmuse wird immer bitterer.
Ob Julius noch der wilde Junge – na ja, inzwischen Mann – ist, der mit dem kantigen Kinn, das sich bereits in Jugendtagen in seinen Gesichtszügen abzeichnete? Warum will er sie jetzt plötzlich besuchen kommen? Soll diese Ankündigung eine Drohung sein? War sie selbst eigentlich stets die ideale Schwester gewesen? Mit einem Ruck schiebt Henni den Stuhl vom Esstisch weg und ihre Selbstzweifel beiseite.
Julius wartet. Ob sie die Tür aufmachen würde? Er hat ein bisschen Angst davor, wollte es aber auch unbedingt. Es war Zeit mit der Vergangenheit abzuschließen und neu anzufangen. Zu viel war schief gelaufen. Bei ihnen beiden. Er schaut auf seine Hände. Saubere Fingernägel und ein schmaler goldener Ring . Er lächelt. Das alles hatte ihn verändert. Sein Leben komplett neu geordnet.
Ein Zeigefinger bohrt sich in seinen Rücken und er dreht sich um. Jana lächelt ihn an und nickt ihm zu. Das kleine Paket auf ihrem Arm grunzt. Er lächelt zurück, dreht sich um und hebt die Hand…da öffnet sich die Tür.
Türchen 6 im Adventkalender:
Die Tür öffnet sich langsam, vorsichtig, sogar etwas unentschlossen. Bis jetzt ist sich Henni noch nicht sicher, ob sie Julius begegnen will. Ob sie mit all dem, was mit ihm wieder in ihr Leben treten wird, umgehen kann. Die alten Geschichten und Schmerzen hat sie ganz hinten in ihrem Herz vergraben und sie hat noch keine Ahnung, ob sie dort hinsehen mag.
Ein eigenartiges Quieken erregt ihre Aufmerksamkeit. Es hört sich an wie ein Ferkel, das noch nicht richtig Grunzen kann. Aber das ist unmöglich, sie hat kein Ferkel in ihrem Garten. Dort laufen nur einige ihrer Wyandotten herum, wunderschöne Hühner, die sie sich seit einem Jahr hält. Hennis merkt, wie ihre Gedanken abschweifen. „Ich muss mich auf Julius konzentrieren“, murmelt sie in sich hinein. An die Anfangszeit mit den Hühnern kann sie ein anderes Mal in Erinnerung schwelgen, das hat jetzt keinen Platz.
Jetzt geht es erst einmal darum, wo dieses grunzende Quieken herkommt.
Morgen erfahrt Ihr mehr darüber bei Christina