Die Szeroka Street umrundet einen der größten Plätze im jüdischen Viertel von Krakau, Kazimierz. Hier steht die Alte Synagoge und die Remuh Synagoge. Das erste Mal sehe ich hier in Krakau wirklich viele Touristen und Touristinnen an einem Ort. Ich bin etwas genervt. Sicher, auch ich bin Touristin in dieser Stadt und werde mit meinem Verhalten schon jemanden geärgert haben. Aber ich rede von diesen Touristengruppen, die wie Schafe in Trance ihrem Leitschaf oder -hammel hinterhergehen und alles beiseite schieben, was sich ihnen in den Weg stellt. Kein Blick nach links, kein Blick nach rechts außer vielleicht mit einem Handy vor der Nase. So schön und geschichtsträchtig der Platz auch ist, ich habe das Gefühl, ich muss weg.
Da sehe ich zufällig neben dem Eingang der Remuh-Synagoge eine Skulptur – Mann auf einer Bank sitzend, ein Unbekannter. Die wenigstens scheinen sich die Mühe zu machen, die Tafel an der Wand daneben zu lesen, um zu erfahren, wer das ist. Oder möglicherweise wissen es alle außer mir. Leider kann ich den polnischen Text auf der Tafel nicht verstehen. Viele, die an ihm vorbeikommen, nutzen schnell die Möglichkeit für ein weiteres Selfie aus Krakau. Der Unbekannte bleibt sitzen, harrt aus in der Hitze und sicher auch in Kälte. Dass bereits viele Menschen mit ihm Tuchfühlung hatten, lässt sich an den goldglänzenden Stellen der Skulptur nur unschwer erkennen. Sie stehen fast Schlange, um mit ihm für ein Selfie zu posen.
Ich nutze die wenigen Sekunden, die der Unbekannte gerade niemanden an seiner Seite hat für ein Foto. Kein Selfie, das mag ich nicht. Aber er berührt mich, wie er hier sitzt – irgendwie lebendig und abgeklärt, als ob er alles verstehen würde und schon vieles gesehen hat. Eigenartig, was ich in eine Skulptur hineininterpretiere(n kann). Er sitzt auf dieser Bank so ruhig und gelassen und lässt sich (natürlich) von den Besucher und Besucherinnen des jüdischen Viertels nicht stören. Es dürften ihn schon Hunderttausende von Besucher_innen fotografiert oder neben ihm gesessen haben. Das jüdische Viertel Kazimierz ist immerhin eine der Hauptattraktionen von Krakau.
Erst jetzt zu Hause nach Recherche weiß auch ich, wer dieser Mann ist – Jan Karski, Holocaust Zeitzeuge. Seine Skulptur wurde auf diesem Platz hier in Kazimierz 2016 installiert. Er soll einer der ersten sein, der den Entscheidungsträgern der alliierten Staaten Informationen über den Holocaust übergab. Sie wollten ihn nicht anhören und haben ihm nicht geglaubt, was er zu erzählen hatte. Nach alldem, was dieser Mensch erlebt hat, verstehe ich jetzt erst recht, warum er so ruhig und gelassen als Skulptur wirkt.
Vielleicht hat er auch einfach Freude daran, dass sich im 21. Jahrhundert doch viele Menschen für die Geschichte des Holocausts interessieren. Er und viele andere haben sich für deren Veröffentlichung und Sichtbarmachung in Lebensgefahr begeben, in der Hoffnung, dass sie sich nie mehr wiederholen wird.
Und das hoffe auch ich von ganzem Herzen.